Marquez-Crewchief: „Stefan Bradl hat uns alle positiv überrascht“

20. Jan.
Stefan Bradl brauchte ein paar Rennen, um sein gewohntes Tempo wieder zu finden.

Foto: Motorsport Images

Santi Hernandez stellt Honda-Ersatzpilot Stefan Bradl ein gutes Zeugnis aus - die MotoGP-Saison 2020 hat den Crewchief von Marc Marquez so manche Lektion gelehrt.

HRC-Crewchief Santi Hernandez zählt zu den erfolgsverwöhntesten Protagonisten im MotoGP-Fahrerlager. Der langjährige Wegbegleiter von Marc Marquez feierte in den letzten Jahren Siege und WM-Titel in Serie. Doch mit der Verletzung von Marquez endete diese Erfolgsserie.

Gegenüber 'Motorsport-Total.com' spricht Hernandez über die MotoGP-Saison 2020, die Einsätze von Stefan Bradl und die Lehren, die er aus dieser ungewöhnlichen Saison gezogen hat. So hat Honda-Ersatzpilot Bradl Hernandez nach einem durchwachsenen Start in die Saison "positiv überrascht".

"Es war ein sehr schwieriges Jahr, es war wirklich sehr hart", gesteht Hernandez. "Am Anfang war es ziemlich kompliziert. Zuerst dachten wir, dass Marc schneller zurückkommen könnte. Deshalb bereitet man sich mental nicht auf eine so lange Abwesenheit vor. Wir dachten, er würde zwei oder drei Rennen verpassen, bei denen wir mit Bradl als Test-Team arbeiten würden."

Zu frühes Marquez-Comeback: Honda machte keinen Druck

Was das krachend gescheiterte Blitz-Comeback des Ex-Weltmeisters beim zweiten Jerez-Rennen angeht, entlastet der Marquez-Crewchief Honda: "Honda hat zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Forderungen an uns gestellt. Sie verstanden die Situation und haben uns viel Sicherheit gegeben, was in solchen Fällen am wichtigsten ist. In einem so komplizierten Jahr kann ich nur dankbar sein für die Behandlung, die wir von Honda erfahren haben. Es war ein echter Augenöffner."

Ab dem Tschechien-Grand-Prix in Brünn saß dann Stefan Bradl auf Marquez' Werks-Honda. "Die Umstellung war gewaltig. Normalerweise kämpfen wir jedes Wochenende um den Sieg oder zumindest einen Platz auf dem Podium. Unser Ziel ist es, die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Und plötzlich mussten wir uns völlig andere Ziele setzen", erinnert sich Hernandez, der sich um die RC213V von Bradl kümmerte.

Dabei fiel es Bradl besonders am Anfang schwer, den Anschluss zu finden und an seine alten Leistungen anzuknüpfen. "Der Wechsel von Marc zu Bradl hat mir eines klar gemacht. Nämlich, dass es für den Großteil des Feldes jedes Wochenende nicht um den Sieg geht, sondern um Punkte", räumt Hernandez ein.

Marquez-Crewchief lernt, kleinere Brötchen zu backen

"Ich bin seit 2011 mit Marc zusammen. Und in dieser Zeit war es immer nur unser Ziel, zu gewinnen. Da denkt man irgendwann, das ist ganz normal. Aber das ist es nicht. Ein gutes Ergebnis ist ein Platz in den Top 10. Was passiert ist, hat mich noch mehr schätzen lassen, was ich an der Zusammenarbeit mit Marc habe. Das Beste, was uns in diesem Jahr passiert ist, ist, dass jeder von uns seine eigene Motivation gefunden hat", erklärt der HRC-Crewchief.

"Ein Beispiel für diese Motivation war in Portimao", erinnert sich Hernandez. Und beschreibt die Szenen nach dem Sturz beim letzten Renn-Wochenende des Jahres: "Stefan ist gestürzt und hat das Motorrad zerstört. Ich habe noch nie ein so zerstörtes Motorrad gesehen."

"Und sogar unser Chef Takeo (Yokoyama) sagte uns, dass er verstehen würde, wenn keine Zeit für eine Reparatur bliebe. Doch die Mechaniker machten sich an die Arbeit. Und hatten dann sogar noch Zeit, nach dem Fertigstellen des Motorrads einen Kaffee zu trinken", blickt Hernandez zurück. "Am Ende des Jahres waren wir sehr stolz auf das, was wir als Team geleistet haben."

Hernandez freut sich über Bradls Entwicklung

"Auch für Stefan war es nicht einfach", ist sich Hernandez bewusst. "Wir sprechen von einem Piloten, der als Testfahrer geholt wurde. Und der plötzlich zum regulären Fahrer wird, der zusätzlich alle geplanten Tests absolvieren muss. In diesem Fall haben wir versucht, Bradl so gut wie möglich zu helfen, damit er sein Maximum zeigen kann."

"Unser Ziel war es, ihn in den letzten Rennen in die Top 10 zu bringen. Und das haben wir geschafft", freut sich der Spanier. "Beim Saisonfinale qualifizierte er sich direkt für Q2. Stefan hat am Ende das Tempo deutlich angezogen, und dafür ist auch das Team mitverantwortlich."

"Er hat uns alle überrascht, auf eine positive Art", stellt Hernandez fest. "Stefan hat sich sehr gut an das Team angepasst. Und trotz der höheren Belastung hat er nie seinen Humor verloren. Außerdem hat es mich überrascht, wie ehrlich er ist. In anbetracht der Umstände und seiner Rolle als Testfahrer wäre es für ihn manchmal leicht gewesen zu sagen, dass die Probleme am Motorrad liegen."

Bradls Ehrlichkeit beeindruck den Marquez-Crewchief

"Aber in dieser Hinsicht war er immer offen und ehrlich. Und es gab viele Momente, in denen er sich bei mir bedankt hat. Nachdem ich versucht hatte, ihm mit dem Bike zu helfen, aber das Problem stattdessen bei ihm lag. Er kam gerade von einem Test und sagte mir, dass das Problem bei ihm lag und nicht beim Motorrad. Und dass er etwas Spielraum brauchte, um wieder in die Spur zu kommen", erinnert sich Hernandez.

"Diese Ehrlichkeit wissen wir wirklich zu schätzen. Er hat gezeigt, dass er ein großartiger Testfahrer ist. Und er hat eine Situation gemeistert, die alles andere als einfach war", lobt er den Honda-Testfahrer. Bradl fuhr bei seinen Einsätzen insgesamt 27 WM-Punkte ein, beendete die Saison auf WM-Platz 19.

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