Wolfgang Thiem im Interview: „Tennis-Österreich hat enorme Defizite“

12. Apr.
Person, Human, Sport

Wolfgang Thiem in Maria Enzersdorf

Wolfgang Thiem ist langjähriger Trainer im ÖTV Leistungszentrum in Maria Enzersdorf. Im Interview spricht der 46-Jährige über Fehler im österreichischen Schulsystem und fordert grundlegende Änderungen in der Ausbildung von angehenden Spitzensportlern. Außerdem erklärt er, warum Österreich keine Challenger-Turniere braucht und weshalb Österreichs Gemeinden weniger Fußballplätze bauen sollten.

Interview: Lukas Zahrer // tennisnet.com

Herr Thiem, seit einigen Jahren leiten Sie gemeinsam mit Günter Bresnik das ÖTVLeistungszentrum. Warum wird dort so erfolgreich gearbeitet?

Wolfgang Thiem: Das ursprüngliche Ziel war es, neben privaten Initiativen ein Leistungszentrum für Wien, Niederösterreich und Burgenland zu schaffen. Wir verbinden dieses mit einem internationalen Stützpunkt. So trainiert etwa Ernests Gulbis regelmäßig bei uns. In einem Land wie Österreich musst du die Besten an einem Ort zusammenholen.

Es ergibt also im Tennis zum Karrierestart wenig Sinn, sich ein Betreuerteam aufzubauen, wie das etwa Marcel Hirscher beim alpinen Skisport macht?

Ich finde es wichtig, dass sie sich von der Leistungsstärke her ständig nach oben spielen können. Selbst der beste Trainer bringt dir irgendwann nichts mehr, wenn du keine guten Trainingspartner hast.

Mit privaten Trainerstunden würden Sie vermutlich deutlich mehr Geld verdienen. Warum arbeiten Sie dennoch mit dem ÖTV?

Die Kinder, mit denen ich arbeite, haben alle eine unglaubliche Disziplin. Tag für Tag überzeugen sie mich mit ihrem Eigenantrieb und ihrer Willenskraft. Ich trage eine große Verantwortung für meine Schüler – dem sind sich viele Trainer gar nicht bewusst. In einer Tennis-Karriere steckt viel mehr als bloßes Training oder Geld, man braucht auch eine Menge Zeit, Geduld und Organisation.

Der ÖTV ist an der Mitgliederzahl gemessen der zweitgrößte Sportverband Österreichs. Warum schaffen es nicht mehr Spielerinnen und Spieler an die Weltspitze?

(Überlegt lange) Das weiß ich nicht. Ich will nicht darüber urteilen, ob dem ÖTV ähnliche Budgets wie dem ÖFB oder dem ÖSV zustehen. Einen Punkt will ich aber festhalten: Geld hat nur beschränkt etwas mit sportlichem Erfolg zu tun. Der Verband in Großbritannien schwimmt im Geld, produziert aber auch keine Superstars am Laufband.

Gemeinsamer Aufschlag auf der ATP World Tour:
ServusTV und Sky kooperieren zu insgesamt 15 Spielen der ATP-Tour. ServusTV ist exklusiver FreeTV-Broadcaster in Österreich. Die Partnerschaft von ServusTV und Sky umfasst insgesamt 15 Spiele der ATP World Tour. Der Fokus wird dabei auf den Matches von Dominic Thiem liegen. ServusTV wird ausgewählte Top-Spiele des österreichischen Tennis-Stars live und exklusiv im österreichischen Free-TV sowie im Live-Stream auf servustv.com übertragen und rechtzeitig vor der jeweiligen Übertragung informieren.

Wären mehrere Turniere ein Mittel zum Erfolg? Warum gibt es etwa keine Challenger-Turniere in Österreich?

Challenger in Österreich wären völlig sinnlos. Wir bräuchten viel mehr Futures. Mittlerweile gibt es ja in der Türkei oder in Ägypten kostengünstige Turniere. Aber wenn diese in Österreich stattfinden würden, könntest du dich nach einer Niederlage in der Quali ins Auto setzen und die gesamte Woche trainieren. Die Reisen kosten auf Dauer eine Menge Geld.

In Spanien wurden kurzerhand eine Handvoll Futures aus dem Boden gestampft, um heimische Spieler nach der ITF-Reform zu fördern.

Ein 15.000-Dollar-Future kostet wohl um die 23.000 Euro. Angenommen, ein Bundesland erklärt sich bereit dazu, anstatt eines x-ten Sportplatzes in der Pampa 500.000 Euro in eine Turnierserie zu investieren. Plötzlich gäbe es von April bis September Future-Turniere in Österreich.

Frage: Haben Sie weitere Verbesserungsvorschläge?

Österreich hat enorme Defizite, was das Schulsystem betrifft. Das ist mit einer angehenden Karriere im Spitzensport nicht vereinbar. Vor allem in der Unterstufe, für Schüler zwischen 11 und 14 Jahren, gibt es großen Aufholbedarf.

Wie sieht Ihre Idealvorstellung aus?

Die schulische Ausbildung sollte um das Training herum platziert werden, und nicht andersrum. Es braucht die Flexibilität, hin und wieder auch vormittags Zeit für eine Einheit auf dem Platz zu haben. Aktuell kommen Kinder körperlich und geistig geschlaucht zu mir ins Training. Es wäre ideal, den einen oder anderen Gegenstand wegzulassen, dafür den Fokus mehr auf Biologie oder Ernährungswissenschaften zu legen. Das wäre auch für eine Trainier-Laufbahn hilfreich, sollte es nicht zum Profi reichen. Von Verbänden aus dem Ausland kann man sich eine Scheibe abschneiden.

Frage: Wer leistet in dem Bereich gute Arbeit?

Ich kann mich an ein Jugendturnier erinnern, zu dem der britische Verband zwei Trainer, einen Konditionstrainer schickte – und dazu einen Lehrer. Wenn Turniere anstehen, summieren sich die Fehlstunden. Man sollte über Optionen wie eLearning nachdenken, oder einer höheren Anzahl an Lern-Modulen in Trainingsphasen. Ich würde diese Aufgabe nicht zwingend unserem Verband anhängen Aus meiner Sicht müsste die Politik handeln. Wenn den Politikern etwas am Leistungssport liegt, wären für den östlichen Raum zwei oder drei solcher Schulen zwingend notwendig.

Frage: Besteht auch in der Trainer-Ausbildung Handlungsbedarf?

Die Tennislehrer hatten früher eine bessere pädagogische Ausbildung. Heute kommen die meisten zum Tennisplatz, um Kohle zu verdienen, sind aber im Umgang mit Kindern meist überfordert. Zudem wurde auf eine dezentrale Individualförderung umgestellt, wo es de facto kein Qualitätskriterium gibt. Es wird nur auf Ergebnisse geachtet, ganz nach dem Motto: ‚Der muss ja gut sein, wenn er eh dieses Kind an die Spitze geführt hat.’ Dieser Zugang ist falsch.

Haben Sie einen Verbesserungsvorschlag?

Es sollte lokale Stützpunkte geben, an denen die Kinder das technische Rüstzeug bekommen. Je zentralisierter diese Einführung, umso leichter: Bei neun Landesverbänden müsste ich die Leute theoretisch neun Mal einladen, und hätte so das Bundesland aus Verband-Sicht flächendeckend gefördert. Da würde ich mir einen Schneeballeffekt vorstellen, bei dem sie dieses Wissen weitergeben. Im späteren Alter könnten sie dann im ÖTV-Leistungszentrum zusammengefasst werden.

Einer ihrer besten Schützlinge ist Sebastian Ofner. Wie zufrieden sind Sie mit seiner Entwicklung?

Er hatte vor zwei Jahren diesen unglaublichen Lauf in Wimbledon. Dort ist sehr viel für ihn gelaufen, im Jahr darauf lief allerdings auch sehr viel gegen ihn. Sebastian hat sich aber sukzessive verbessert. Er spielt heuer besser als im letzten Jahr, und damals besser als vor zwei Saisons. Ich hoffe, er stabilisiert sich so sehr, dass es in Richtung Top-100 geht. Das traue ich ihm spätestens im nächsten Jahr zu hundert Prozent zu. Das Potenzial dafür hat er.

Frage: Was sagen Sie zu Dennis Novak, den sie ebenfalls betreuen?

Wir wissen alle: Er spielt seine besten Matches vor vollem Haus und wächst mit der Aufgabe. Sein Problem ist eher, bei einem Challenger vor gefühlt zwei Zuschauern seine Leistung abzurufen. Das muss er aber tun, denn in seinem Ranking-Bereich kann er nichts anderes
spielen. Sein Potenzial lässt es theoretisch zu, dass er auf jeder Ebene bis hin zum Grand Slam zumindest gut mitspielen kann.

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